Altersgedichte

Julikinder

Wir Kinder im Juli geboren

Lieben den Duft des weißen Jasmin, 

Wir wandern an blühenden Gärten hin

Still und in schwere Träume verloren.

Unser Bruder ist der scharlachene Mohn,

Der brennt in flackernden roten Schauern

Im Ährenfeld und auf den heißen Mauern,

Dann treibt seine Blätter der Wind davon.

Wie eine Julinacht will unser Leben

Traumbeladen seinen Reigen vollenden,

Träumen und heißen Erntefesten ergeben,

Kränze von Ähren und roten Mohn in den Händen.

Hermann Hesse / Mai 1904

Gebet eines älter werdenden Menschen

Oh Herr, 

Du weisst besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.

Bewahre mich vor der Einbildung, 

bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von der grossen Leidenschaft, 

die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich (aber nicht grüblerisch), 

hilfreich (aber nicht diktatorisch) zu sein.

Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit 

erscheint es mir ja schade, sie nicht weiter zu geben.

Aber du verstehst – oh Herr – dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten. 

Und verleihe mir Schwingen, zum Wesentlich zu gelangen.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. 

Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wage nicht die Gabe zu erflehen, 

mir Krankheitsschilderungen anderer mit Freude anzuhören, 

aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. 

Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.

Erhalte mich so liebenswert wie möglich. 

Ich möchte keine Heilige sein, 

mit ihnen lebt es sich schwer, 

aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an andern Menschen unerwartete Talente zu entdecken 

und verleihe mir, oh Herr, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.

Teresa von Avila: spanische Heilige und Mystikerin, 16. Jahrhundert

Spruch für eine Sonnenuhr

Der Tag geht über mein Gesicht.

Die Nacht, sie tastet leis vorbei.

Und Tag und Nacht ein gleich Gewicht

und Tag und Nacht ein Einerlei.

Es schreibt die dunkle Schrift der Tag

und dunkler noch schreibt sie die Nacht.

Und keiner lebt, der deuten mag,

was beider Schatten ihm gebracht.

Und ewig kreist die Schattenschrift.

Leblang stehst du im dunklen Spiel,

Bis einmal dich die Deutung trifft.

Die Zeit ist um. Du bist am Ziel.

Rudolf G. Binding / 19. / 20. Jahrhundert

Trost

Unsterblich duften die Linden –

Was bangst du nur?

Du wirst vergehn und deiner Füsse Spur

Wird bald kein Auge mehr im Staube finden.

Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn

Und wird mit seinem süssen Atemwehn

Gelind die arme Menschenbrust entbinden.

Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier?

Was liegt an dir?

Unsterblich duften die Linden.

Ina Seidel / 19./20. Jahrhundert

Abendlied

Augen, meine lieben Fensterlein,

Gebt mir schon so lange holden Schein.

Lasset freundlich Bild um Bild herein:

Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,

Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh’,

Tastend streift sie ab die Wanderschuh’

Legt sich auch in ihre finst’re Truh’.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend steh’n,

Wie zwei Sternlein, innerlich zu seh’n,

Bis sie schwanken und dann auch vergeh’n,

wie von eines Falters Flügelweh’n.

Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,

Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;

Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,

Von dem goldnen Überfluss der Welt!

Gottfried Keller / 19. Jahrhundert

Sommer ward alt ...

Sommer ward alt und müd,

Lässt sinken die grausamen Hände,

Blickt leer übers Land.

Es ist nun zu Ende,

Er hat sein Feuer versprüht,

Seine Blumen verbrannt.

So geht es allen. Am Ende

Blicken wir müd zurück,

Hauchen fröstelnd in leere Hände,

Zweifeln, ob je ein Glück,

Je eine Tat gewesen.

Weit liegt unser Leben zurück,

Blass wie Märchen, die wir gelesen.

Einst hat Sommer den Frühling erschlagen,

Hat sich jünger und stärker gewusst.

Nun nickt er und lacht. In diesen Tagen

Sinnt er auf eine ganz neue Lust: 

Nichts mehr wollen, allem entsagen

Hinsinken und die blassen

Hände dem kalten Tode lassen,

Nichts mehr hören noch sehen,

Einschlafen… erlöschen… vergehen…

Hermann Hesse / 20. Jahrhundert

Das Alter

Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise,

Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen,

Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen

Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.

Die Wanduhr tickt, im Zimmer singet leise

Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.

Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,

Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.

So mild ist oft das Alter mir erschienen:

Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder

Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.

Ans Fenster klopft ein Bot’ mit frohen Mienen,

Du trittst erstaunt heraus – und kehrst nicht wieder,

Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.

Joseph von Eichendorff / 19. Jahrhundert

Altwerden

All der Tand, den Jugend schätzt,

auch von mir ward er verehrt,

Locken, Schlipse, Helm und Schwert,

Und die Weiblein nicht zuletzt.

Aber nun erst seh ich klar,

Da für mich, den alten Knaben,

nichts von allem mehr zu haben,

Aber nun erst seh ich klar,

Wie dies Streben weise war.

Zwar vergehen Band und Locken

Und der ganze Zauber bald,

Aber was ich sonst gewonnen,

Weisheit, Tugend, warme Socken,

Ach, auch das ist bald zerronnen,

Und auf Erden wird es kalt.

Herrlich ist für alte Leute

Ofen und Burgunder rot

Und zuletzt ein sanfter Tod –

Aber später, noch nicht heute.

Hermann Hesse / 20. Jahrhundert

Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht.

Die mir die Zeit genommen;

Mein sind die Jahre nicht,

Die etwa möchten kommen.

Der Augenblick ist mein,

Und nehm ich den in acht,

So ist der mein,

Der Jahr und Ewigkeit gemacht.

Andreas Gryphius / 17. Jahrhundert