Der Raum des Abschieds

Vielleicht stellen Sie eines Tages fest, dass Sie mehr Freunde und Verwandte im Jenseits haben als im Diesseits. Es kann sein, dass Sie dabei sind, die Altersgrenze zu überschreiten, die alle Ihre Vorfahren erreicht haben. Dann stossen Sie in ein Gebiet vor, wo Sie keinen Kompass, keine Wegleitung, keine genaue Orientierung mehr haben.

Wie findet man sich da zurecht?

Es ist ein eigenartiges Gefühl, zu wissen, dass der Horizont des Lebens sichtbar wird. Ebenso das Nicht-Wissen, welche Wegstrecke bis dahin noch vor einem liegt.

Ich habe den Raum, den wir mit dem sicheren Wissen um die Endlichkeit unseres Lebens betreten, den Raum des Abschieds genannt. Es gilt, von vielem Abschied zu nehmen. Von Lebensträumen, die sich nicht mehr erfüllen werden, von Zeiten, die nicht wiederkehren, und von Beziehungen, die sich überlebt haben.

Manche Abschiede fühlen sich an, wie dürres Herbstlaub, das vom Baum abfällt, leicht und stimmig. Andere sind schmerzlicher, wie der Abschied vom braunen oder schwarzen Haar, vom glatten Gesicht der jungen Jahre, vom die Treppe hoch eilen oder auf den Zug rennen, ohne ausser Atem zu geraten, nachts gut und ohne Schmerzen schlafen, essen, was man will, ohne zuzunehmen, fünf Stunden wandern ohne zu ermüden, sich sofort an den Namen erinnern, wenn uns jemand begegnet, den wir lange nicht gesehen haben.

Doch im Raum des Abschieds ist vieles nicht mehr wichtig, was früher grosses Gewicht hatte. Das Vergessen von unwichtigen Dingen ist sogar eine Wohltat. Wichtig ist: Raum haben um mich herum und in mir drin, kostbare Freundschaften pflegen, keinen Stress aufkommen lassen, nichts erzwingen wollen, die Dinge lassen, wie sie sind. Aber sich freuen an dem, was der Tag bringt: mächtige Wolken am Himmel, verfrühte Forsythienblüten im Januar, eine Blaumeise im Geäst vor dem Fenster, ein Lächeln auf dem Gesicht eines Begegnenden, ein freundlicher Blick, ein paar spontan getauschte Worte.

Solche Dinge helfen uns, in der Gegenwart zu leben und das Gefühl zu entwickeln, dass jeder Tag ein Neubeginn sein kann, obwohl wir nicht wissen, ob er unser letzter ist. Dieser Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft entbindet uns nicht von dem Bewusstsein, dass wir in absehbarer Zeit die Schwelle überschreiten werden, die das Land der Lebenden vom Land der Toten trennt.

Ich wünsche mir, dass dann ein vertrauter Mensch die Worte aus dem Tibetischen Totenbuch von Sogyal Rinpoche* mit aufrichtiger Zärtlichkeit zu mir sprechen wird:


„Ich bin hier bei dir und ich liebe dich. Du liegst im Sterben, 
aber das ist etwas ganz Natürliches; es geschieht jedem. 
Ich wünschte, du könntest noch länger bei mir bleiben, 
aber ich möchte nicht, dass du noch länger leidest. 
Die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, war schön und intensiv, 
und ich werde sie immer zu schätzen wissen. 
Bitte halte jetzt nicht länger am Leben fest. Lass los! 
Ich gebe dir von ganzem Herzen mein Einverständnis zu sterben.
Du bist nicht allein, weder jetzt, noch in Zukunft.
Du hast meine ganze Liebe.

* Sogyal Rinpoche: Das Tibetische Totenbuch, ISDN. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod, Otto Wilhelm Barth-Verlag