Vor hundert oder hundertfünfzig Jahren hätte sich diese Frage kaum gestellt, weil die Menschen gar nicht so alt wurden und deshalb keinen jahre- oder jahrzehntelangen «Ruhestand» erlebten. Heute bildet diese Phase oft einen eigenen Lebensabschnitt. Ersehnt, weil man hofft, endlich die Musse zu haben, das zu tun, was einem Freude macht, oder gefürchtet, weil der Sinn des Lebens in der Arbeitsleistung gelegen hat – der Übergang braucht Zeit und muss gestaltet werden.
In unserer Gesellschaft gleicht dieser Übergang häufig einem Bruch oder einem Schnitt. Das Gesetz schreibt den Tag vor, ab dem man in den Genuss der AHV (staatliche Altersrente) kommt, und in manchen Berufen ist damit unabwendbar Schluss mit der Erwerbstätigkeit.
Das Wesen von Übergängen ist aber nicht, dass sie schlagartig passieren (ausser bei schicksalsverhängten mit abruptem Charakter). Sie sind mit Abschiednehmen, dem Auflösen einer alten Lebensform und dem Aufbauen einer neuen verbunden. Das braucht Zeit und bringt Schwankungen und Unsicherheiten mit sich.
Ich spreche jetzt nicht von Ausnahmen wie z.B. bei freiberuflicher Tätigkeit oder eher weiblichen Lebensentwürfen, wo der Eintritt des Mannes ins Rentenalter einschneidende Veränderungen mit sich bringen mag.
Die Hauptfrage, die sich bei diesem Übergang ins Rentenalter stellt, ist eine Identitätsfrage. Wer bin ich ohne Beruf mit allem, was damit verknüpft ist: Ansehen, Einkommen, Kompetenzgefühl, Kontaktmöglichkeiten?
Was erfüllt mich, wenn dies alles wegfällt? Wohl kaum, wie es in einem Ratgeber für die nachberufliche Zeit steht, sich vorzunehmen, im Laufe eines Jahres in jedem Schweizer See gebadet zu haben. Das klingt eher wie blinder Aktionismus, das Beibehalten eines Rekorddenkens, das – wenn überhaupt – in eine frühere Lebensphase gehört.
Nun, es hindert mich nichts daran, mich als ehemalige Lehrerin oder ehemaligen Buchhalter zu bezeichnen und meine Fähigkeiten in Teilzeitarbeit oder auch in Freiwilligentätigkeit einzubringen. Das heisst, ich muss meine Identität als Berufsfrau/-mann nicht einfach aufgeben und mich unter dem gesichtslosen «Rentner» oder «Rentnerin» einreihen.
Wichtiger ist aber vielleicht, was mich denn sonst ausmacht, was ich selbst an mir als unverwechselbar und einzigartig empfinde. Nichts? War ich nur Persona, wie C.G. Jung die gesellschaftliche Fassade nennt?
Wahrscheinlich braucht es Zeit, um mir darüber klar zu werden. Ohne Tagesstruktur Musse zu haben, will gelernt sein. Es kann sich ein Gefühl von Leere einstellen, verbunden mit der Frage: Und jetzt? War’s das?
Nicht leicht zu ertragen und die Zuversicht zu behalten, dass ich lernen kann, was mir ein erfülltes Lebens- und Selbstgefühl vermittelt.
Wenn ich in meinem Leben Beziehungen und Freundschaften gepflegt habe, liegt darin ein Schatz, den ich nur zu heben brauche. Der Austausch mit Weggefährten, die dasselbe erleben wie ich, kann ungemein bereichernd sein. Gemeinsame Unternehmungen, Spaziergänge oder Reisen bereichern unser Leben.
Tätigkeiten wie Handwerkern, Gärtnern, soziale Aufgaben ebenfalls.
Damit ist aber die Frage nach unserer Identität noch nicht gelöst. Dazu eine kleine Geschichte von Ellie Wiesel
Wenn du stirbst und in den Himmel kommst, wird dich unser Schöpfer nicht fragen: Warum hast du keine Heilbehandlung für diese oder jene Krankheit gefunden? Warum wurdest du nicht der Messias? Die einzige Frage, die uns in jenem kostbaren Moment gestellt wird, lautet: Warum bist du nicht du selbst geworden?
Und du? Wer bist du? Finde es heraus, du hast noch Zeit vor dir auf Erden!